Standards des Netzwerks für interkulturelle Psychotherapie nach Extremtraumatisierung (NIPE)

Diese Standards reflektieren den gemeinsamen Nenner der genannten Einrichtungen, die Psychotherapie für AsylwerberInnen und Flüchtlinge anbieten. Darüberhinaus sind die Bestimmungen des Berufskodex für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und die Bestimmungen des Psychotherapiegesetzes Grundlagen der psychotherapeutischen Arbeit, für PsychologInnen und klinische PsychologInnen das Psychologengesetz und für andere Berufsgruppen entsprechende gesetzliche Bestimmungen bzw. Richtlinien ihrer Berufsgruppenvereinigungen.

Grundsätzliches

Entsprechend den in Österreich sowie international gemachten Erfahrungen ist für die Behandlung von Flüchtlingen mit psychischen Problemen eine den aktuellen Lebenskontext ebenso wie den Fluchthintergrund beachtende Psychotherapie als Kernangebot am besten geeignet, eventuell ergänzt durch weitere Beratungs- und Behandlungsangebote.

Das Leben im Exil verstehen die NIPE Einrichtungen als Teil des traumatisierenden Prozesses: auf die Gewalt vor und während der Flucht folgen die Erfahrungen von Unsicherheit und Ohnmacht im Asylverfahren. Bei einer Anerkennung als Flüchtling werden der Verlust von Freunden, Familie, Sprache und der Rückkehr in eine einstigen Heimat definitv. Traumatherapie umfasst in diesem Kontext somit mehr als die Bearbeitung vergangener Traumata, sie ist eine Stütze in einer Lebenssituation, die als permanenter Stress erlebt wird.

Die Auswirkungen der spezifischen Lebenslage von KlientInnen im Asylverfahren, das dadurch bedingte Retraumatisierungspotential sowie die Herausforderungen und Beschränkungen, die daraus für den psychotherapeutischen Handlungsrahmen resultieren, verlangen nach einer positionierten Haltung der Einrichtungen.

Was für die psychotherapeutische Arbeit mit Überlebenden von Gewalt gilt, gilt ganz besonders für die Arbeit mit Flüchtlingen: Das psychotherapeutische Setting beinhaltet eine unterstützende Haltung und Parteilichkeit und reflektierte Stellungnahmen gegen jede Form von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen.

Die Einrichtungen des Netzwerkes verbindet darüber hinaus das Bemühen um verbesserte Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Österreich als Folge einer politisch verstandenen ZeugInnenschaft.

Zielgruppenorientierung

Das Angebot bzw. die Kompetenzen der MitarbeiterInnen müssen sich an den spezifischen Problemen der KlientInnengruppe orientieren: Zentrales Thema unserer Arbeit ist es, die psychischen und physischen Leiden, die aufgrund von Verfolgung, Flucht und den Aufnahmebedingungen in Österrreich enstanden sind, zu verringern und den betroffenen Menschen zu ermöglichen, diese Erfahrungen letztlich integrieren zu können.

Rahmenbedingungen der Einrichtung und des Umfelds

Abgrenzung von Sozial- und Rechtsberatung

PsychotherapeutInnen treten ihren KlientInnen nicht in anderer Funktion, etwa als SozialberaterInnen gegenüber, auch wenn ihre Kenntnisse dies zulassen würden. Bei Fragen zum Asylverfahren, zu finanziellen oder unterkunftsbedingten Problemen wird mit den KlientInnen ein Weg erarbeitet, wo und wie sie zu diesbezüglicher Hilfe gelangen können. PsychotherapeutInnen beschäftigen sich jedoch nicht mit der Lösung dieser Fragen. In Psychotherapien tätige DolmetscherInnen sind an die Abstinenz- und Schweigepflicht gebunden. Es kann problematisch sein, wenn DolmetscherInnen auch außerhalb der Psychotherapie für dieselben KlientenInnen in anderem Rahmen (z.B. Sozialamt, Krankenhaus) dolmetschen. Dies sollte vor dem Einsatz in solchen Situationen reflektiert werden.

Örtliche Rahmenbedingungen

Zur psychischen Stabilisierung bedarf es eines sicheren ‘inneren’ Raums, der die Grundvoraussetzung für jeden Heilungsprozess darstellt. Dieser Raum sollte auch in der ’äußeren’ Welt repräsentiert sein. Psychotherapeutische Arbeit mit durch ‘man made desaster’ traumatisierten Menschen soll also an einem gleich bleibenden Ort in einem geeigneten Therapieraum stattfinden. Er soll Sicherheit bieten, dass das Gesprochene ‘draußen’ nicht gehört werden kann.
Nach Einschätzung und Erfahrung des Netzwerks ist aufgrund der räumlichen Bedingungen in den Flüchtlingsquartieren keine längerfristige Psychotherapie möglich. Das bedeutet nicht, dass niederschwellige Angebote direkt in den Quartieren nicht wertvoll wären (z.B. Psychoedukation, Malgruppen etc)

Zeitliche Rahmenbedingungen

Langzeittherapie muss möglich sein
Die Bewältigung komplexer Traumata kann nur in einem langfristigen Prozess stattfinden. Die Entscheidung über die Beendigung der Psychotherapie wird im individuellen psychotherapeutischen Setting getroffen. Verbleib oder Beendigung einer Therapie darf nicht an Vergünstigungen oder Sanktionen geknüpft werden.

Einsatz von DolmetscherInnen

DolmetscherInnen werden vor ihrem ersten Einsatz für die spezifischen Anforderungen geschult. Diese Schulung beinhaltet den Hinweis auf die Schweigepflicht, Rollenklarheit, Details zum Übersetzen und der Zusammenarbeit Sie werden auf mögliche Übertragungsphänomene und die Bedeutung ihrer körpersprachlichen Signale (Blickrichtung der DolmetscherInnen) und einer geeigneten Sitzordnung hingewiesen.

DolmetscherInnen übersetzen konsekutiv und möglichst akkurat, ohne zu interpretieren oder etwas hinzuzufügen. Unvollendete Sätze werden auch so gedolmetscht und nicht ergänzt. Sprachbilder, die in Deutsch ungewohnt sind, sollen wörtlich wiedergegeben. Günstig ist es, wenn DolmetscherInnen bei Bedarf in der Lage sind, die Bedeutung von Sprachbildern oder Sprichwörtern zu erklären oder auch auf einen auffälligen Sprachgebrauch der KlientInnen hinweisen (wirres Reden, ungewöhnliche Wortwahl etc).

Teil des Aufgabengebiets von DolmetscherInnen wie PsychotherapeutInnen ist die Reflexion ihrer Arbeit. Dazu dienen Vor- und Nachbesprechung der Therapiestunden sowie auch Supervision und Intervision. Diese Reflexionsmöglichkeiten sollten nach Möglichkeit in bezahlter Arbeitszeit stattfinden. Ebenso zählt die Teilnahme an Fortbildungen zum Stellenprofil beider Berufsgruppen.

Ausbildung und Methodik

Methodisch sind alle in Österreich anerkannten Psychotherapierichtungen als Grundausbildung geeignet. Neben der Psychotherapieausbildung in einer der in Österreich anerkannten Ausbildungseinrichtungen verfügen die PsychotherapeutInnen über zusätzliche traumaspezifische und interkulturelle Fortbildungen. Einzeltherapie steht bei schwer traumatisierten Menschen in der Regel im Vordergrund. Gruppenangebote sind ebenso eine sinnvolle Ergänzung. Gute Erfahrungen bestehen mit Gruppen, die einen spezifischen Fokus und eine in Hinsicht auf Herkunft bzw. Sprache oder Alter eingegrenzte Zielgruppe haben..

Wo das Kernangebot Psychotherapie durch andere Angebote wie z.B. psychologische Beratung, Physiotherapie, Mal- und Gestaltungstherapie ergänzt wird, gelten auch für diese MitarbeiterInnen die Standards bezüglich Supervision und Fortbildung wie sie für PsychotherapeutInnen in diesem Papier ausgeführt werden. Eine abgeschlossene Ausbildung nach den in Österreich jeweils geltenden Richtlinien ist Voraussetzung.

In allen Angeboten der Einrichtung wird auf eine kultur- und geschlechtssensible Gestaltung geachtet, z.B. Art und Ort der Bekanntmachung, Öffnungszeiten, Auswahl von TherapeutInnen und DolmetscherInnen. Dies spiegelt sich auch in der Arbeitsweise aller MitarbeiterInnen.

Spezifische Anforderungen an PsychotherapeutInnen und PsychologInnen
Die psychotherapeutische Arbeit mit Flüchtlingen ist durch Bedingungen geprägt, die spezifische zusätzliche Anforderungen an die behandelnden PsychotherapeutInnen bzw. PsychologInnen stellen.

Besonders wesentliche Konstanten der Arbeit mit Flüchtlingen sind:

  • Häufiger Wechsel der Rahmenbedingungen (z.B. Rechtsstatus, Unterbringung, Finanzen) und deren Einfluss auf die Themen der psychotherapeutischen Arbeit
  • Permanente Konfrontation mit schwer traumatisierten Menschen
  • Interkulturalität
  • Modifizierung des gewohnten Settings durch die Arbeit mit DolmetscherInnen

Dadurch benötigen PsychotherapeutInnen und PsychologInnen in diesem Kontext insbesondere folgende Fähigkeiten und Kenntnisse und sollen von den Einrichtungen darin gefördert werden, diese aufzubauen:

  • Wissen über Trauma und die verschiedenen Krankheitsbilder, die durch traumatische Erfahrungen bedingt sein können
  • Wissen über das Erleben von Flucht, Verfolgung, Folter
  • Kenntnis der rechtlichen Rahmenbedingungen und der Lebenssituation von Flüchtlingen, die großen Einfluss auf die therapeutische Arbeit haben
  • Fähigkeit zu ressourcenorientierter und lange Zeit stabilisierender Arbeit
  • Bereitschaft zur Arbeit mit Täterintrojekten und auch mit TäterInnen
  • Aufmerksamkeit für die eigenen kulturellen und lebensgeschichtlichen Prägungen, für die Relativität des als „normal“ und „richtig“ Empfundenen sowie die Fähigkeit Interventionen achtsam und kultursensibel zu gestalten
  • Reflexion, wie unterschiedliche Herkunft, Sozialisation, Status- und Machtverteilung zwischen KlientInnen und PsychotherapeutInnen/ PsychologInnen den therapeutischen Prozess, Übertragung und Gegenübertragung beeinflussen

Spezifische Anforderungen an Einrichtungen

Psychotherapeutische Einrichtungen für Flüchtlinge sollen so konzipiert sein, dass die hier beschriebenen Standards umgesetzt werden können. Darüber hinaus erachten die NIPE Mitgliedorganisationen folgende Grundhaltungen der Einrichtung bzw. deren Trägerorganisation und deren LeiterInnen für wesentlich:

In den Einrichtungen besteht Offenheit für schulenübergreifende, traumaspezifische Methoden und eventuell auch die Psychotherapie ergänzende Angebote (z.B. Körperorientierte Verfahren, Gestaltungs- und Maltherapie, Tanztherapie).

PsychotherapeutInnen und PsychologInnen, die mit Flüchtlingen arbeiten, verfügen über Expertise betreffend die retraumatisierenden Auswirkungen rechtlicher Bestimmungen. Diese Expertise sollte auch zuständigen Behörden und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, um verantwortungsvolle Politik zu ermöglichen. Dies erfordert seitens der Einrichtungen die Bereitschaft, dieses Wissen in den politischen Diskurs einzubringen.

Die Einrichtung soll, um die psychische Gesundheit der MitarbeiterInnen zu gewährleisten Supervision undIntervision, möglichst im Rahmen bezahlter Arbeitszeit sowie ev. auch die Möglichkeit zu sabbaticals zur Verfügung stellen.

Der Dialog mit Behörden sowie mit Hilfsorganisationen, die interdisziplinäre Zusammenarbeit, insbesondere mit JuristInnen und ÄrztInnen sollte von der Einrichtung ermöglicht und gefördert werden.